Geschichten aus Tschlin

Chalandamarz – das erfolgreichste Engadiner Exportgut

Autor: Nicolo Bass | Fotograf: Flurin Bertschinger

«Hoch in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein so wie ihr.» Das ist der Beginn des romanischen Weltbestsellers «Schellen-Ursli». Diese Geschichte aus Guarda konnte in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiern. Die Engadiner Kindererzählung von Selina Chönz, illustriert vom Oberländer Künstler Alois Carigiet, wurde millionenfach verkauft und in 14 verschiedene Sprachen übersetzt.

Im Jahre 1953 wurde die Geschichte erstmals durch den Thurgauer Filmemacher Ernst A. Heiniger verfilmt. Der Film wurde in den Disney-Studios produziert und lief erfolgreich als Vorprogramm in amerikanischen Kinos. Seit längerem gilt der Streifen als verschollen.

Im Jahre 1964 entstand ein Kurzfilm von 18 Minuten von der Condor-Films AG in Zusammen­arbeit mit der Buchautorin Selina Chönz. Die Haupt­rolle spielte der damals siebenjährige Gianni Cantoni aus St. Moritz. Der Schellen-Ursli Kurzfilm war ein internationaler Kassenschlager und erhielt über zehn internationale Auszeichnungen. Als Kinovorspann schaffte es die Schellen-Ursli-Geschichte in die natio­nalen und internationalen Kinos und wurde an Filmfestivals in Barcelona, Marseille, San Francisco, Paris und Edinburgh ausgestrahlt.

Auch die 2015 erschienene Neuverfilmung hat Schlager-Potential. Unter der Regie von Xavier Koller wurde der Kinofilm in der Unterengadiner Bergwelt, in Schluchten, auf verschneiten Alpen und in Engadiner Dörfern gedreht. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Uorsin, seine Ziegen und seine gleich­altrige Freundin Seraina. Den Sommer verbringen sie auf dem Maiensäss und im Winter wohnen sie im kleinen Bergdorf.

Die ursprüngliche Geschichte vom Schellen-Ursli ist schnell erzählt: Uorsin hat für den Chalandamarz nur ein kleines Glöckchen. Deswegen wird er von den anderen Buben gehänselt und muss sogar den Umzug als Letzter bestreiten.

Er erinnert sich an die grosse Kuhglocke, die im Maiensäss hängt. Uorsin nimmt den abenteuerlichen Weg durch den tiefen Schnee auf sich. Als es dunkel wird, sucht das ganze Dorf nach Uorsin. Er erscheint dann am nächsten Tag mit der grössten Glocke und kann den Chalandamarz-Umzug anführen.

Durch die Geschichte von Selina Chönz und die Illustrationen von Alois Cariget wurde der Chalandamarz-Brauch zu einem Engadiner Exportgut mit sehr grossem Werbeeffekt. Sowohl Schellen-Ursli als auch Chalandamarz wurden sogar auf eine Gedenkmünze geprägt und von Uorsin gibt es eine eigene Briefmarke.

Aber was für eine Bedeutung hat eigentlich der Chalandamarz-Brauch am 1. März? «Chalanda» bedeutet der 1. Tag im Monat, also der erste Tag im Monat März. Der Begriff stammt aus der Zeit, als Rätien noch eine Provinz des Römischen Reichs war. Vor dem julianischen Kalender war Chalandamarz der erste Tag im Jahr und der Brauch diente dazu, beim Jahres­wechsel die bösen Geister zu vertreiben. Später wurden an diesem Tag die gewählten Gemeindepräsidenten, Schreiber und Schatzmeister (Säckelmeister) in ihre Ämter vereidigt.

Noch heute finden zum Beispiel in Zuoz an diesem Tag die Vereidigungen der Gemeindebehörden statt. Andernorts im Engadin dient der Chalandamarz, um den Winter zu vertreiben. Die Schuljugend – früher nur die Jungen, seit rund 30 Jahren auch die Mädchen – zieht singend und schellend durchs Dorf und läutet den Frühling ein. Mit Peitschenknallen und Kuhglockengeläut wird der Alpaufzug zelebriert.

Die Festivitäten sind von Dorf zu Dorf unterschiedlich, jedes Dorf hat seine Eigenheiten. Die Vorbereitungen auf diesen speziellen Tag sind aber fast überall gleich. Bereits anfangs Februar beginnen die Jungen, das Peitschenknallen zu üben. In der Schule werden fleissig die Chalandamarz-Lieder einstudiert. Zuhause werden die «rösas» als Blumenschmuck aus buntem Seiden­papier gebastelt.

Einige Tage vor dem grossen Anlass wird dann noch der Chalandamarz-Wagen mit Tannenreis und Zweigen, Papierblumen und traditionellem Käserei-Handwerkzeug dekoriert. Rechtzeitig muss auch die möglichst grosse Kuhglocke organisiert werden, und der blaue Kittel und das rote Halstuch sind Pflicht.

Trotz der Fusion zur Gemeinde Valsot wurde der Chalandamarz-Brauch in den Fraktionen erhalten. Die Tschliner Jugend feiert in Tschlin, die Schüler von Ramosch ziehen durch die Fraktionen Ramosch und Vnà und in der Talsohle führt der Chalandamarz-Umzug von Seraplana bis Martina.

Grundsätzlich gibt es bei jedem Umzug einen Pfarrer, einen Senn, Bauern und Hirten, sowie Pferde, die den Wagen ziehen, und natürlich die «Uorsins» mit den Kuhglocken. Die ältesten Schüler führen den Umzug an, einer dirigiert den Chor. Wer welche Rollen übernehmen muss, wird in jeder Fraktion unterschiedlich bestimmt.

Egal wo, der Chalandamarz-Umzug ist überall sehenswert. In Ramosch findet am Nachmittag und am Abend der Chalandamarz-Ball statt. In Tschlin und Strada-Martina wird an Mattinadas anfangs Jahr getanzt. Auch diese Traditionen und Bräuche werden gepflegt.

Bei Uorsin endet die Geschichte nicht mit Musik und Tanz, sondern mit Kastanienribel und geschwungenen Nidel. «Der Ursli isst soviel er kann, die Eltern sehn sich glücklich an.»